Margarita

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Es war der 7. Februar 2001, ungefähr eine halbe Stunde vor Mitternacht. Aus dem Eingang zur Charité, der großen Universitätsklinik in der Mitte von Berlin, kam ein Mann herausge… – ja, was eigentlich? Gelaufen? Nein, laufen konnte man das wohl eher nicht nennen. Er hüpfte von einem Bein aufs andere, drehte sich um sich selbst, erst links- dann rechtsherum. Plötzlich nahm er ein, zwei, drei Schritte Anlauf – ein Sprung hinaus ins Freie… – die Landung sah nicht gut aus.

Tagsüber war der Schnee geschmolzen und zur Nacht wurde aus dem Schmelzwasser spiegelblankes Eis. So fanden seine Füße beim Aufsetzen keinen Halt. Sie schlidderten nach vorne weg, das Gesäß prallte auf den gefrorenen Boden, dann schlug der Hinterkopf auf den harten Untergrund.
Hätte jemand den Sturz beobachtet, er wäre wohl sofort in die Klinik gelaufen, um die Unfallsanitäter zu alarmieren: Schnell, kommen Sie! Beckenbruch, Gehirnerschütterung… mindestens.

Doch der Mann war unverletzt. Auch Schmerzen spürte er nicht. Im Gegenteil, ihm war, als würde er noch immer schweben. Denn das, was von außen wie ein Sturz aussah, kam ihm vor, wie ein langer, sanfter Flug.

Irgendwie war er aus der Zeit herausgefallen.

Ein seltsamer Zustand. Während die Minuten auf ihrem Weg durch den Raum alles und jeden durchdringen und die Welt kaum merklich, aber stetig ein wenig älter werden lassen, schien es, als umgäbe ihn eine unsichtbare Hülle, die keine Kraft durchstoßen konnte. Ganz selten nur berührte ihn mal eine kleine, verirrte Sekunde – so langsam verging für ihn die Zeit.
Der Mann bemerkte auch die Kälte nicht, die da aus dem Boden kroch. Noch immer auf dem Rücken liegend, breitete er seine Arme aus, den Blick nach oben gerichtet.

Ach, Sterne… .

Was sind schon Millionen Sonnen, die ihr Licht aus der Ferne auf die Reise schicken, damit sie den Erdenhimmel zum Funkeln bringen? Was sind sie gegen das Wunder, das ihm widerfahren war? Ein Wunder, so unfassbar groß, dass es, kaum war es erschienen, ihn schwerelos werden ließ und unverwundbar…

Langsam erhob sich der Mann. Er nahm die Tasche auf, die ihm beim Fallen entglitten war und ging zur der gefrorenen Wiese, die dem Klinikhochhaus gegenüber lag. Dort packte er all jene Sterne aus, die er nun in den Nachthimmel schicken würde.

Bei jeder Rakete, die zischend hoch ins Dunkel schoss, um weit oben in unzählige leuchtende Kugeln zu zerspringen, nannte der Mann das Wunder bei seinem Namen.

Vier Silben.

Erst leise, nur für sich. Dann lauter, immer lauter.

Nachdem der letzte Blitz am Himmel krachend verloschen war, blickte er noch einmal zum Klinikgebäude hinüber. Dort, irgendwo hinter einem der vielen Fenster, war es geschehen.

Dann drehte sich der Mann um und begab sich langsamen Schrittes in eine Nebenstraße, in der noch einige Taxis auf späte Fahrgäste warteten. Er setzte sich in einen dieser Wagen und ließ sich in die Stadt fahren – dorthin, wo die Menschen auch noch um Mitternacht beieinander sitzen.

Um es allen zu erzählen: Margarita ist da.

 



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