Über lange Nachkriegsjahre war der größte Teil der Fläche des späteren Hirschhofes das oberflächlich enttrümmerte Gelände einer ehemaligen, durch verirrte Bomben zerstörten Käserei in der Oderberger Straße. Ein kleiner Teil bildete den vierten Hof der tiefgestaffelten Bebauung von der Kastanienallee her, im hinteren Teil in unmittelbarer Nachbarschaft zum Prater Garten.
Niemandsland. Unbewacht.
Und seit 1961 quasi in Rufweite zum schärfstens bewachten Niemandsland zwischen zwei Weltsystemen. Grenzgebiet.
Grenzregime: Am westlichen Ende der Oderberger Straße, der Einmündung in die Schwedter Straße, gab es vor der Vorlandmauer noch einen schmalen Durchschlupf von der Eberswalder zur Oderberger, an der anderen Ecke stieß die Mauer direkt ans Eckhaus.
Der Aussichtspunkt Bernauer Straße auf der Westseite war seither nicht mehr zu sehen. Nachdem jemand Anfang der achtziger Jahre versucht hatte, irgendwo mit einem LKW die Vorlandmauer zu durchbrechen, tauchten quer über die Straße angeordnete, bepflanzte Beton-Blumenkübel als zusätzliche Sperre auf.
Hinter dieser Linie angetroffen, mußte man unweigerlich seinen Ausweis vorzeigen und seine Anwesenheit erklären. Davor nur manchmal, wenn man lange Haare hatte und Jesus-Latschen, Fleischerhemd und Parka trug. (In dem Aufzug konnte es einem aber auch passieren, gar nicht erst in den “Oderkahn” hineingelassen zu werden, wenn Frau Wirtin wieder einen schlechten Tag hatte.) Etliche dieser Kübel wurden später zur Begrünung der Straße benutzt…
„Feindliche“ Übernahme der Strukturen durch die Bürger
Anfang der achtziger Jahre beabsichtigte der Rat des Stadtbezirkes in damals wie heute gängiger Verwaltungsmanier, in den Nachkriegswildwuchs auf der Brache einzugreifen: Mit der Axt. Die inzwischen dort hochgewachsenen Kastanienbäume sollten gefällt werden. Im Hintergrund stand die vage Idee, auf dieser Fläche wieder Gewerbe anzusiedeln, die auf den Nachbarhöfen schon jeher vorhandene Nutzung hierhin auszudehnen.
Dagegen sammelten einzelne Anwohner Unterschriften bei ihren Nachbarn. Unruhe in der Bevölkerung – ein absoluter Aufreger für die verschiedensten staatlichen Stellen in der späten DDR, die (um der eigenen Bequemlichkeit willen) Ruhe für die erste Bürgerpflicht hielten und zu halten, zu wahren hatten, koste es, was es wolle.
Ein paar olle Kastanienbäume schienen des Aufhebens nicht wert und so sollte sich der örtliche Wohnbezirks-
ausschuß (WBA) um die Sache kümmern.
Diese WBA’s, quasi die Basisorganisationen der “Nationalen Front” der DDR, spielten im täglichen Leben zu dieser Zeit eigentlich keine Rolle mehr. Hier aber kam es zu einem, für die “Organe” letztlich verhängnisvollen Kurzschluß: Die aufsässige Bevölkerung lernte, die überkommenen Einrichtungen in ihrem Sinne zu benutzen, und die Aufsässigkeit befiel die überkommenen Einrichtungen.
Die Bevölkerung wünscht sich einen Spielplatz und eine Grünanlage – bitte schön: Zwischen 1982 und 1985 wurde der Hof durch die Eigeninitiative der Bewohnerinnen und Bewohner der Oderberger Straße mit staatlichem Geld und unter administrativem Argwohn geschaffen.
Um Flurstücksgrenzen oder gar Eigentumsverhältnisse hat sich damals keiner gekümmert. Warum auch? Es ahnte ja niemand, daß das zwanzig Jahre später als Sakrileg angesehen werden würde. Vor der Hand war wichtiger, landschaftsplanerischen, gärtnerischen und künstlerischen Sachverstand aus der Nachbarschaft zusammenzuführen. Nach dem aus Schrott und Alltagsgegenständen zusammengeschweißten Hirsch des Bildhauers Stefan Reichmann, durch dessen Beine hindurch man den Hof betrat, hat dieses Stück Land seinen Namen.
Und blieb doch Niemandsland.
Hof mit Stasi-Akte
Während die Anwohner das Grünflächendefizit in diesem Teil des Prenzlauer Berges beheben wollten, war der Totalabriß der Oderberger Straße für die DDR-Stadtplaner längst ausgemachte Sache. An der heutigen Ecke Michelangelo-Straße/Greifswalder Straße war ein Hochhaus geplant, das alle Bewohner der westlichen Oderberger Straße aufnehmen sollte.
So politisierte sich, was mit einem “Paradiesgarten” begonnen hatte, und über diese “Grünanlage” wurden ursprüngliche staatliche Organisationseinheiten wie ein Wohnbezirksausschuß zu Keimzellen des Widerstandes gegen den SED-Staat, weil alle gemeinsam die Offenlegung der Pläne erzwangen, und sie so scheitern ließen.
Aus dem unverfänglichen “Nachbarschaftsgarten” wurde bald ein Begegnungsort, der weit über die bloße “Nachbarschaft” hinaus ausstrahlte. Er wurde zu einem Treffpunkt sogenannter Halbstarker, genauso, wie zum Treffpunkt der wachsenden DDR-Opposition, wie des künstlerischen “Untergrundes” des Prenzlauer Berges – mit fließenden Grenzen zwischen all diesen Gruppen. Das MfS legte eine Akte “Hirschhof” an. Es hat nichts genützt.
Suchte man in Ostberlin nach den Wurzeln dessen, was sich im Westen schon lange “Bürgerbewegung” nennt, stößt man unweigerlich auf den Hirschhof. Hier kam es zur Konjunktion politisch oppositioneller Gruppen und breitem, an einer konkreten Sache orientierten “bürgerschaftlichem” Engagement. Wenn man so will: Eine der ersten Bürgerbewegung in Ostberlin.
Diese Struktur war über die staatliche Vereinigung hinaus tragfähig. Noch in den frühen neunziger Jahren wurden auf dem Hirschhof die beiden größten Mieterdemon-
strationen organisiert, die es in Berlin je gab.
In bewußter Anlehnung an die alte Abkürzung der Wohnbezirksausschüsse, WBA, organiserte sich hier die Initiative “Wir bleiben alle”, W.B.A. Und die Protagonisten waren zu großen Teilen immer noch dieselben.
Es ist fast ein Treppenwitz der Geschichte, daß der Gegenstand der Proteste, die damals auf dem Hirschhof organisiert wurden, heute seinen Untergang besiegeln soll. Unter dem Primat des Eigentums an Grund und Boden akzeptieren bundesdeutsche Gerichte in dieser Frage keinerlei anarchische Zustände, weder zu DDR-Zeiten noch unter den Bedingungen einer Revolution.
Schonzeit abgelaufen
Hinzu tritt eine Verwaltung, die in zwanzig Jahren versäumt hat, die notwendige Papierform herzustellen (durch Ausweisung als öffentliche Grünfläche oder die Eintragung von Wegerechten); entweder aus purer Rachsucht, wie unmittelbar nach der sogenannten Wende, aus tiefem Widerwillen gegen die aktive Bürgerschaft oder, was das Wahrscheinlichste ist, aus Vergesslichkeit, Ignoranz und Schlamperei der zuständigen Fachbeamten.
Mit dem Verkauf der unmittelbar an den Hof angrenzenden Häuser in der Kastanienallee war die Schonzeit abgelaufen. Die gewählten Volksvertreter in der BVV hatten in den vergangenen zehn Jahren manche Pirouette zum Erhalt des Hirschhofes vollzogen, von der Gestaltung eines neuen Zuganges, bis zur versuchten Ausweisung als Gartendenkmal – die an der Landesdenkmalschutzbehörde scheiterte.
In der Begründung zu dem Beschluß der BVV, den Hirschhof als öffentliches Gartendenkmal zu erhalten heißt es:
“Der Hirschhof ist keine Kirche, kein repräsentatives Gebäude – er ist ein Garten. Ein Garten mit einer Stasi-Akte. In unmittelbarer Nähe hat sich das Drakonische der DDR in Beton und Stacheldraht manifestiert. Die Opposition saß im Grünen. Das machte ihre Kraft aus. Darum ist dieser Ort denkmalwürdig. Verschlösse man ihn vor der Öffentlichkeit, tötete man seinen Geist.“
Antisoziale, geschichtsvergessene, neue “Eigentümer”, die wie zum Hohn immer wieder erklären, sie seien “wegen dem Flair”, “dem Besonderen”, gar “dem Aufmüpfigen” in den Prenzlauer Berg gekommen, erreicht man mit solchen Appellen nicht. Gegen diese Totengräber all der Dinge, deretwegen sie angebliche kamen, hilft nur neuer Aufmupf, in dem die – auch schon seit Jahren immer wieder erwogene – Enteignung nun endlich in einem förmlichen Verfahren eingeleitet wird. Dieses Verfahren wird lange dauern und voller juristischer Tretminen stecken.
Solange bleibt der Hirschhof, was er immer war: Niemandsland. Mit Grundstücksgrenzregime.
Zwischenüberschriften: Prenzlberger Stimme
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Michael Springer
Okt 15. 2011
Es könnte Vergesslichkeit, Ignoranz und Schlamperei der zuständigen Fachbeamten gewesen sein – das wäre ein allzu menschlicher Faktor.
Es könnte aber auch noch ganz anders sein: ein Mangel an „Vorausdenken“, an „Voraussschau“ und „Vorstellungskraft“ und „Vorsorge“ – das wäre dann ein tiefgreifendes kulturelles und strukturelles Problem.
In jedem Fall erfordert der Fall Hirschhof ein „zuständigkeitsübergreifendes Denken und Handeln und Vorausplanen“ – zwischen Grundbuchamt, Rechtsamt, Finanzen, Umwelt und Stadtentwicklung.
Ich habe aber Zweifel, ob das auch bei besten Absichten und Wissen der Beteiligten in einer Bezirkszuständigkeit überhaupt praktisch erreichbar ist!
Schon bei der Frage, ob eine Grundbuchänderung überhaupt bis zur Stadtplanung durchdringt, wird man auf erste Schwierigkeiten stoßen. Und zu Letzt wird man sich fragen müssen, ob man nicht sogar als Verwaltung machtlos ist, gegen eine Gentrifizierung, die in vielen kleinen Schritten, Grundstücksgeschäften und Rechtsakten wirksam voranschreitet.