Eva Salinger war die ältere Schwester meines Großvaters. Sie wurde von den Nazis verfolgt und nach ihrer Deportation ermordet. Neben Evas Stolperstein hat der deutsche Künstler Gunter Demnig in den letzten zwanzig Jahren über 70.000 Steine europaweit verlegt – rund 8.000 davon in Berlin. Diese Verlegung, von denen Berlin schon so viele gesehen hat, wird für mich eine ganz besondere sein.
Ich recherchiere mittlerweile seit sehr langer Zeit. Dabei werde ich immer wieder mit der Realität der traumatischen und stark fragmentierten Geschichte meiner Familie konfrontiert.
Das ist auf der einen Seite, die Geschichte meiner Großeltern, ein frisch verheiratetes deutsch-jüdisches Paar, das schon früh von den Tragödien ihres Lebens gezeichnet seine Heimat verlassen musste, um in einem Land zu leben, dessen Sprache sie nicht einmal sprachen. Sie waren gezwungen, alles hinter sich zu lassen, als sie gerade ihr erstes Kind erwarteten – meinen Vater. Und dann waren da auf der anderen Seite die Geschichten all derer, die sie verloren hatten und über die sie kaum sprechen konnten.
Zehn Jahre nach Informationen geforscht
Evas Geschichte war besonders schwer zu greifen. Mein Großvater hat keine Fotos oder Briefe seiner Schwester aufbewahrt. Sie war buchstäblich vom Unausgesprochenen, von Schmerz und Schuld umgeben.
Ich, der kaum Deutsch sprach, fuhr mehrere Male nach Berlin, um zumindest ein wenig über ihr Leben zu erfahren. Regelmäßig musste ich zum Berliner Landesarchiv gehen, verlor mich in den Straßen der Stadt und auf den Wegen der Friedhöfe, ich musste die Bürokratie des Roten Kreuzes verstehen lernen, entdeckte den Wiedergutmachungsantrag, den mein Großvater Ende der 50er Jahre gestellt hatte.
Ich hinterließ Zettel, mit der Bitte um Informationen an Gebäuden und in Fluren und entdecke im Brandenburgischen Landeshauptarchiv in Potsdam Evas Vermögenserklärung, die sie ausfüllen und unterschreiben musste und mit der Eva ihren spärlichen Besitz an das Deutsche Reich übertrug, am Tag bevor sie deportiert wurde.
Fast zehn Jahre waren notwendig, um diese fragmentierte und teilweise verwirrende Geschichte zu verstehen, so das sich der Nebel, der Eva zu umgeben schien, schlussendlich ein wenig gelichtet hat.
Evas Bruder wurde im KZ erschlagen
Eva wurde 1899 in Laskownica bei Posen geboren. Ihr Vater führte dort eine Gastwirtschaft. Als Mitglied einer deutsch-jüdischen Familie der unteren Mittelklasse, die im Handel oder mit Textilien gearbeitet hat, war ihre Jugend keine leichte.
Schon mit zehn verlor sie ihre Mutter und wurde daraufhin teilweise von einer ihrer Tanten erzogen. Ihr älterer Bruder Max starb als Soldat der deutschen Armee im ersten Weltkrieg. Das war im Juli 1917. Nur zweieinhalb Jahre später brachte sich ihr Vater um.
Eva begann früh zu arbeiten, sowohl um sich selbst, aber auch ihre jüngeren Brüder und Schwestern durchzubringen.
Die meiste Zeit lebte sie in Deutsch Krone (Wałcz, Polen). Allerdings führte ihr Weg dann nach Berlin, wo sie im Juli 1931 ein kleines Mädchen namens Ruth zur Welt brachte. Eva erzog ihre Tochter allein, der Vater war und ist unbekannt.
Im Sommers 1933 wurde Evas Bruder, Siegmund Salinger, ein in der SPD aktiver Kaufmann, von den Nazis in Deutsch Krone verhaftet. Er wurde in das Konzentrationslager Hammerstein eingeliefert und dort von einem der SS-Aufseher aufgrund seines jüdischen Glaubens totgeschlagen.
Einige Familienmitglieder, auch mein Großvater, flohen daraufhin aus Deutschland, Eva jedoch blieb. Warum lässt sich heute nicht mit Sicherheit feststellen. Zu vermuten ist aber, dass sie als alleinerziehende Mutter, 35 Jahre alt, zu große Schwierigkeiten sah, in Übersee neu zu anzufangen.
Evas Tochter kam mit einem Kindertransport nach England
Anhand einer Schulkarte, die vom Roten Kreuz aufbewahrt wurde, erfuhr ich, dass Eva und ihre Tochter etwa ab Frühling 1938 in Berlin lebten. Mutter und Tochter erhielten keine familiäre Unterstützung, daher nahm Eva jede Art von Arbeit an. Sie arbeitete unter anderem als Hausmädchen und Wirtschafterin bevor sie von den Nazis in der Batteriefabrik Petrix in Berlin-Schöneweide verpflichtet wurde.
Nach der Reichspogromnacht im November 1938 war Eva in ihren Grundfesten erschüttert und tat alles, was in ihrer Macht stand, um ihre Tochter zu schützen. Sie erreichte so, dass Ruth mit einem Kindertransport am 3. Mai 1939 nach England in Sicherheit gebracht werden konnte.
Eva konnte ihr bis September 1939 noch einige Pakete und Briefe schicken. Ein in die damals noch neutralen Niederlande geflohener Cousin half Eva danach Briefe an Ruth zu verschicken. Nach dem Einmarsch deutscher Truppen in die Niederlande im Mai 1940 ging diese Möglichkeit verloren.
Im Vernichtungslager Chelmno ermordet
Eva blieb weitere zweieinhalb Jahre allein in Berlin, bevor sie am 29. Oktober 1941 ins Ghetto Łódź deportiert wurde. Dort verblieb sie einige Monate, bevor sie am 4. Mai 1942 in das Vernichtungslager Chelmno deportiert wurde. Kurz nach ihrer Ankunft dort, wurde sie ermordet. Das Rote Kreuz hat als letzte Adresse von Eva in Berlin die Lothringer Straße 31 bei Neumann festgehalten.
Nach weiteren Recherchen fand ich heraus, dass sich hinter dem Namen Neumann eine jüdische Familie verbarg, die ebenfalls schweres Leid während des Krieges erfuhr. Für Familie Neumann werden wir in der Torstraße 83 (damals die Lothringer Strasse 31) und einige Häuser weiter vor der Torstraße 106 sechs weitere Stolpersteine verlegen.
Ich wusste, dass Ruth, Evas Tochter, nach dem Krieg beschlossen hatte, in England zu bleiben. Ich konnte jedoch lange Zeit nicht feststellen, was aus ihr geworden ist. An Weihnachten 2013 erhielt ich eine E-Mail von der mir bis dahin unbekannten Helene Hughes.
Sie wollte gern mehr über die Familie von Ruth Salinger erfahren, das jüdische Mädchen, das ihre Mutter in England 1939 aufgenommen und fortan versorgt hatte. Sie informierte mich auch darüber, dass Ruth im April 2013 verstorben war und erzählte mir in der Folge viel über Ruth und ihr Leben in der Hughes Familie.
Ein einziges Foto
Unter den Dokumenten, die sie mir zur Verfügung stellte, gab es ein Bild der kleinen Ruth mit ihrer Mutter in einem Berliner Park. Das war das erste Mal, dass ich Evas Gesicht sah – soweit ich weiß, ist es das einzige Foto, das von ihr noch existiert.
Wie eingangs berichtet, recherchiere ich seit mehr als zehn Jahren die Geschichte meiner jüdisch-deutschen Familie.
Jede noch so kleine Entdeckung, die ich gemacht habe, hat mir geholfen, die Welt die meine Großeltern durch den Krieg verloren haben, greifbarer zu machen und besser zu verstehen.
Der Krieg nahm meinen Großeltern ihr Land, ihre Heimat, ihre Sprache, Familie, Freunde und die vielen kleinen Feinheiten, die das Leben ausmachen. Erst heute beginne ich das Trauma des Verlusts und all den unausgesprochenen Schmerz, sowie ihre damalige Welt zu sehen und zu verstehen: Ein Universum, das für immer verloren ist.
Zum ersten Mal nehme ich an einer Stolperstein-Verlegung für jemanden aus meiner Familie teil. Mit der Verlegung dieses Stolpersteins, bringen wir etwas aus meiner Familie zurück in das Herz und den Boden dieser Stadt – aus der sie verschwunden ist.