Staatsbesuch im Neubauviertel


 

Die älteren werden sich womöglich noch daran erinnern: Bei jeder millionsten Wohnung, die fertiggestellt oder modernisiert wurde, kam der DDR-Chef in Begleitung eines Pressetrosses persönlich vorbei, um der glücklichen Millionen-Familie alles Gute zu wünschen.
 

Von der ersten Million neugebauter oder modernisierter Wohneinheiten ist der Bezirk Pankow noch ein bisschen entfernt. Aber immerhin: Zwischen dem Stiftsweg- und der Wolfshagener Straße werden von der GESOBAU derzeit 193 neue Mietwohnungen neu gebaut sowie 401 Bestandswohnungen modernisiert.
Nicht ganz unwichtig: 81 Prozent der Wohnungen werden zu einer Kaltmiete von 6,50 angeboten – die restlichen 19 Prozent sind dafür erheblich teurer.
 
Es ist das größte Bauprojekt, das die landeseigene Wohnungsbaugesellschaft derzeit am Laufen hat.
Das Besondere ist, dass hier Verdichtung zum Einen mit Neubau, zum anderen mit dem Aufstocken von alten DDR-Viergeschossern Wohnraum geschaffen wird. Und: Die Aufstockungen sind in Holzhybridbauweise erfolgt, was erstens die Belastung des Unterbaus verringert und zweitens klimafreundlicher ist, als Bauen mit Beton. Von den 193 neuen Wohnungen befinden sich 71 auf den ehemaligen Altbau-Dächern. Die aufgestockten Altbauten gehören zur ersten Serie des industriellen Bauens in der DDR mit der Oberbezeichnung IW 57 (steht für „industrieller Wohnungsbau 1957“), die in verschiedenen Varianten (L1/I bis IV, Q3 und Q3A)

In Ost-Berlin gibt es allein rund 29.000 Wohnungen des Bautyps Q3A– was ungefähr 800 Häuserzeilen entspricht. Theoretisch wäre da Platz für mindestens 6.500 Wohnungen ohne zusätzlichen Flächenverbrauch.

 

Ein IW 57/L-Bau im „Urzustand“ und eine von der GESOBAU modernisierte und aufgestockte Hauszeile des selben Bautyps

 

Dachgeschoss für 1.800 Euro warm macht zwei Wohnungen frei

Das im Jahr 2020 begonnene Projekt wird zwar erst 2024 fertiggestellt sein, aber man kann ja schon mal vorbeischauen, dachten sich Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey und Bausenator Andreas Geisel (beide SPD) – schließlich ist Wahlkampf und da machen sich Bilder von neuen Wohnungen und glücklichen Mietern immer gut.

Also klingelten sie bei Marie Vetter, die kürzlich in eine der bereits aufgestockten Dachgeschosswohnung Quartier genommen hatte.
Frau Vetter war ob des Überraschungsbesuches gar nicht erstaunt und lud nicht nur Frau Giffey, Herrn Geisel und den mitgekommenen GESOBAU-Chef Jörg Franzen, sondern auch die zahlreich erschienenen Presseleute, ohne die ja ein solcher Besuch wenig Sinn macht, in ihr neues Heim ein.
Das hat vier Zimmer, ist 88 Quadratmeter groß und verfügt über eine langgezogene Terrasse.

Hier wohnt sie aber künftig nicht allein, sondern mit ihrem Freund. Zuvor hatten beide getrennt gelebt, was Franziska Giffey nach kurzem Überlegen zu der messerscharfen Analyse veranlasste: „Dann sind ja jetzt zwei Wohnungen freigeworden. Zwei!“ Was Marie Vetter bestätigte.

Die Frage nach dem Mietpreis beantwortete Frau Vetter mit „1.800 Euro“, „Aber warm, aber warm“, sprang Jörg Franzen sofort ein, um nicht den Eindruck entstehen zu lassen, die GEWOBAG verlange bei den nicht mietgedeckelten Wohnungen Mondpreise.

 

Wohnungslotto ohne Enttrümmerung

Wie aber kommt man an eine solche Wohnung?

Als in den 1950er Jahren die Bauten in der Friedrichshainer Stalinallee (später in Karl-Marx-Allee umbenamst) hochgezogen wurden, konnte da natürlich nicht jeder einziehen, der eine Wohnung brauchte.

Also wurde gelost: Um einen Wohnungslotterieschein zu erhalten, musste man in irgend einer Weise etwas dafür geleistet haben. Und das waren nicht wenige. Rund 45.000 freiwillige Helfer zählte man, die die Kriegstrümmer der einstigen Großen Frankfurter Straße beseitigten oder gereinigt und zur Wiederverwendung vorbereiteten und die damit ein Anrecht hatten, an der Lottrie um eine der 5.000 Wohnungen zwischen dem Strausberger Platz und der Proskauer Straße teilzunehmen.

In Pankow sieht das derzeit noch etwas krasser aus. Als kürzlich eine 6,50-Euro-Erdgeschosswohnung auf der Webseite der Wohnungsbaugesellschaft zur Vermietung angeboten wurde, meldeten sich laut GESOBAU-Teamleiter Martin Meinel über 3.000 Bewerber. Also blieb nichts anderes übrig, als auf das alte Stalinallee-Verfahren zurückzugreifen: Losen. Zum Unterschied zu damals müssen die heutigen Wohnungsaspiranten zuvor jedoch keine Enttrümmerungsarbeit geleistet haben.
 

 

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