Seit gestern ist die am 20. Januar verkündete „Notstandsverordnung“ von Bezirksstadtrat Torsten Kühne in Kraft, die einen „eingeschränkten Veranstaltungs- bzw. Ausstellungsbetrieb“ für die kommunalen Kultur- und Bildungseinrichtungen vorschreibt, in Kraft. Die Protestfront, die sich gegen die Kürzungen – und erst recht gegen die angekündigten Schließungsabsichten – aufgebaut hat, ist erheblich.
So hat eine von der Schauspielerin Iris Boss initiierte Petition an das Berliner Abgeordnetenhaus mit der Überschrift „Für den Erhalt der kulturellen Einrichtungen in Berlin-Pankow“ bis heute (Donnerstag) Mittag bereits über 5.000 Unterstützer gefunden.
Verschiedene Verbände, Gruppen und Zuammenschlüsse, wie zum Beispiel der Landesverband Freie Theaterschaffende oder das Aktionsbündnis Berliner Künstler beließen es nicht bei eigenen Protestschreiben, sondern forderten die Leser ihrer Seiten auf, selbst in die Tasten zu greifen – unter Angabe der offiziellen e-mail-Adresse des Stadtrates. Der Account Kühnes dürfte in den vergangenen Tagen gut gefüllt worden sein.
Doch protestiert wird nicht nur vom Schreibtisch aus. Heute Abend ab 19 Uhr findet eine Protestveranstaltung Berliner Künstler „zur Eröffnung des Notbetriebs“ vor dem Eingang des Kulturareals am Thälmannpark in der Danziger Straße 101 statt. Dabei ist auch die Aktionsgruppe gegen Kulturabbau, die mit der Fotoaktion DEIN GESICHT GEGEN KULTURABBAU all jenen ein Gesicht geben will, die sich nicht mit Mittelkürzungen und Schließungsabsichten für Kultur- und Bildungseinrichtungen abfinden wollen.
Heute: Veranstaltung mit Stadtrat Thorsten Kühne
Unter dem Motto „Empört Euch – Engagiert Euch lädt ebenfalls heute der Bürgerverein „Pro Kiez Bötzowviertel“ zu einer Diskussionsveranstaltung mit dem Kulturstadtrat in die Kurt-Tucholsky-Bibliothek in der Esmarchstraße ein. Die Bibliothek war schon einmal von Schließung bedroht konnte Dank ehrenamtlicher Arbeit des Vereins weiterbestehen. Nun steht sie auf Kühnes Abschussliste.
Aufgerufen wird auch zum Besuch der nächsten Tagung der Bezirksverordnetenversammlung am 15.02.2012 und zur öffentlichen Sitzung des Kulturausschusses am 21.02. 2012.
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Michael Springer
Feb. 03. 2012
„Pankower Notstand“ – aus der Sicht der unmittelbaren Betroffenen in den Kultureinrichtungen ist das eine verständliche Beschreibung. Die Beschreibung „regionalisiert“ aber das Problem.
Faktisch haben wir es mit einem berlinweiten Notstand zu tun:
Der Senat Berlin spart die Bezirke kaputt – und bei den Bezirken sind nach langen Jahren der Sparpolitik die Grenzen für kreative Umschichtungen erreicht und überschritten.
Bezirkspolitik und Bürger müssen das Problem nun an der richtigen Stelle vortragen und um höhere Einsicht im Roten Rathaus kämpfen.
Eine „Kosten-und Leistungsrechnung“, die ehremamtlich geführte Stadtbibliotheken mit ihren „Sozialraumfunktionen“ für einen ganzen Kiez nicht bewertet – ist fiskalpolitischer Irrsinn! KLR-Kennzahlen – die „Ehrenamt“ zum „Streich-Amt“ machen, diskriminieren bürgerschaftliches Engagement.
40.000 € Ersparnis im Jahr bedeuten hier den Verlust von schulbegleitender Leseförderung, kultureller Freizeitaktivität und indirekt spätere Mehrausgaben in Sozialarbeit, Jugendhilfe und privater Nachhilfe.
Darüberhinaus wird der Politik für mehr bürgerschaftliches Engagement auf völlig krude Weise entgegengearbeitet!
Am Beispiel einer Theater-Compagnie kann man sich leicht ausrechnen, welchen irrsinnigen Effekt Sparpolitik aufgrund der Kulturökonomie längst hat:
100.000 € Einsparung für einen Spiel- oder Theaterort bewirken unmittelbar weitere Kosten – nur eben im Sozialetat:
1 ausgefallene Inszenierung bedeutet den Verlust von (z.B.) 10-12 Arbeitsplätzen,
die nach einer erfolgreichen Premiere eigentlich auf Tournee-Reisen gehen.
10-12 Künstler, die sich mangels Alternative in Hartz4 anmelden, kosten den Bezirk
rund 160.000 € im Jahr (einschl. Verwaltung) ohne politische Steuerungsmöglichkeiten: es sind dann gesetzlich garantierte Pflichtausgaben.
Ein Spielort wie das THEATER UNTERM DACH oder die WABE haben nun aber je Monat mehrere Premieren und Debüts – weil sie auch Startrampe für Kultur UND Arbeitsstätte für Künstler und Kulturschaffende – bis hin zum Veranstaltungstechniker und Ticketverkäufer sind. Der wirtschaftliche Effekt ist viel größer, als bei einer einzelnen Compagnie.
Ruf und Mythos des Ortes sind auch nirgends bewertet – obwohl der gute Ruf des Ortes schon tausende Künstlerbiographien befördert hat.
Im Roten Rathaus – und nicht nur dort – muß man sich fragen, wie man das
Geld besser anlegt:
Kulturorte versus ungesteuerte Sozialausgaben?
Ein Finanzsenator ist gut beraten, wenn er zusätzlich zu seiner Fiskal-Bilanz auch eine Sozialbilanz der „pflichtigen Sozialausgaben“ aufstellt!
Eine Stadt, die viele Künstler und Kulturschaffende ausbildet, muß auch Wirtschaftsförderung für Kunst & Kultur betreiben!
Die Politik muß lernen: Kultur ist heute die wichtigste Querschnittsaufgabe, um die einzige nachhaltige Ressource dieses unseren Landes zu entwickeln:
Die Fähigkeiten, das Wissen, die Inspiration, die Motivation und die Lebenskraft der Menschen, die eine kreative Ökonomie zustande bringen !
Delpht
Feb. 03. 2012
Ich frage mich – warum diese kulturellen Einrichtungen sich nicht aus eigener Kraft finanzieren können? Sind ihre Spielpläne unattraktiv? Vielleicht zu wenig Vorstellungen? oder oder oder
Es gibt in Berlin Theater, Galerien etc. die keinerlei Unterstützung bekommen und auch existieren. Die Künstler dort müssen so manchesmal 7 Tage die Woche auftreten
und nebenbei noch andere Arbeiten annehmen – Diese verdienen Achtung und Unterstützung. Aber ein Theater welches 12 Vorstellungen im Monat gibt, eine Galerie bei der man nichteinmal den Künstlernahmen der Ausstellung entdeckt, einem
Proberaum der abgeschlossen ist und Künstlern die sich nicht für so gut halten, das sie ihre Vorstellungen mit Besuchern füllen und so sich selbst finanziern könnten- da fällt mir nur die Schließung ein.
Wenn der Bezirk Geld wie Heu hätte wär das Alles nicht Thema – aber dem ist nicht so. Und wenn 3jährige sterben weil das Jugendamt die Stunden für Fürsorge kürzt, in den Schulen die Toiletten zusammenbrechen und Obdachlose in dieser Kälte frieren
dann geb ich doch den Euro, den ich hab, dafür aus! Für Menschen die nicht für sich selbst sorgen können. Dieses Gejammer der Künstler ist nicht zu fassen. Zu verlangen das Steuergeld für Sie ausgegeben werden muß, ist ja wohl ein schlechtes Theaterstück. Menschen (auch Künstler) die alt genug sind und im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte, sollten mal versuchen für sich selbst zu sorgen! Wie so viele Andere aus ihren Reihen die es tag täglich tun.
additiv
Feb. 03. 2012
Ohne „überkorrekt“ sein zu wollen, halte ich den Begriff Notstandsverordnung (auch mit Gänsefüßchen) in diesem Zusammenhang und mit Blick auf die deutsche Geschichte für einen ziemlichen Fehlgriff.
Sorry, meine Meinung.
von ODK
Feb. 03. 2012
Die offizielle Mitteilung des Bezirksamtes war mit „Bezirkliche Kultureinrichtungen in Pankow im Notstand“ überschrieben. Und auf Grund dieses von Amts wegen ausferufenen „Notstandes“ erließ der zuständige Stadtrat eine Anordnung mit dem bekannten Inhalt. Insofern müsste es natürlich ganz korrekt nicht Notstandsver-, sondern Notstandsanordnung heißen – und zwar ohne Gänsefüßchen.
Klingt aber auch nicht besser – deutsche Geschichte hin oder her.
ODK
additiv
Feb. 06. 2012
Ganz Korrekt wäre es dann wohl eher die vorläufige Haushaltswirtschaft, was bei aller Lyrik des Herrn Stadtrates noch lange keinen Notstand macht.
Tino Kotte
Feb. 03. 2012
@Michael Springer Volle Zustimmung! Der Adressat fuer den Protest ist der Senat. Dort wird Politik gemacht , in Pankow wird notverwaltet. Berlin gibt lieber Millionen fuer die A100-Planung us,alssich um die Bezirke zu kuemmern.
@Delpt: Das ist genau das, was der Senat will: Selbstzerfleischungstendenzen auf Beziksebene statt Aufstand gegen eine verfehlte Zuweisungspolitik des Landes
Berlin an die Bezirke.