„Ein Zwölf-Tage-Senator kriegt 50.000 Euro hinterhergeworfen und für uns soll kein Geld vorhanden sein?“ Die Erregung war groß, als Sozialstadträtin Lioba Zürn-Kasztantowicz gestern (Mittwoch) in der Seniorenfreizeitstätte Stille Straße versuchte, ihre Absicht, die Einrichtung nahe des Majakowskirings zu schließen, zu erklären.
Rund 120 Seniorinnen und Senioren drängten sich in der kleinen Villa, die Empörung war groß und der Hinweis auf das Übergangsgeld des wegen der Beurkundung von Schrottimmoblien-Verkäufen zurückgetretenen ehemaligen Justizsenators Michael Braun war nicht der einzige Fingerzeig
dafür, dass die Betroffenen der Stadträtin den Sparzwang nicht so recht abnahmen. “Wegen lumpiger 60.000 Euro soll das Haus geschlossen werden?”, rief beispielsweise ein erregter Senior in Richtung Bezirksstadträtin. „Sie wollen das Grundstück verkaufen, das ist die Wahrheit!”
Rund dreihundert Kursteilnehmer treffen sich jede Woche in der Begegnungsstätte, das Angebot ist vielfältig: Es gibt Sport- und Sprachgruppen, Bridge-, Schach-, Canasta-, und Skatgemeinschaften und anderes mehr. Für viele ist das Haus zum Lebensmittelpunkt geworden.
Ruth Dzudzek, die wie viele andere ehrenamtlich in der Freizeitstätte tätig ist, verwies auf die sieben Gymnastik-
gruppen des Hauses, in denen die Senioren sich fit halten: “Damit entlasten wir schließlich auch die Krankenkassen wie die AOK.”
Die vom Bezirksamt gemachten Angebote an einzelne Gruppen, in andere Einrichtungen zu ziehen, wurde von den Senioren abgelehnt: “Was sollen wir in Weißensee?”
Stattdessen wurde immer wieder der Verdacht geäußert, es gehe dem Bezirk überhaupt nicht um die 60.000, die eine Schließung einsparen sollte, sondern darum, die Immobilie zu verkaufen.
Bezirksstadträtin Lioba Zürn-Kasztantowicz wies dies ein um das andere Mal zurück: Die Entscheidung zur Aufgabe der Begegnungsstätte in der Stille Straße, die ihr nicht leicht falle, wurde deshalb getroffen, weil die Schließung anderer Einrichtungen gravierendere Folgen haben würde: Im Umkreis von Alt-Pankow und Niederschönhausen sei das Netz von
Seniorentagestätten dichter als anderswo im Bezirk.
Doch die meisten der Anwesenden blieben skeptisch: Was denn mit dem Grundstück passiere, wenn das Haus geschlossen werde? Lioba Zürn-Kasztantowicz: „Das wird dann aus dem Fachvermögen genommen.“
Was das bedeutet, war offenbar den wenigsten klar, und so kamen weitere Fragen nach der Zukunft der Immobilie.
Schließlich hielt es Helga Hampel, die bis zum vergangenen Jahr die Pankower Seniorenvertretung führte, nicht mehr auf ihrem Stuhl: „Ihr müsst richtig hinhören!“ Und erklärte dann, was die etwas kryptisch anmutenden Worte der Stadträtin bedeuteten: Die Immobilie wird dem Liegenschaftsfonds zum Verkauf überlassen. Helga Hampel: „Wenn das Geld vom Verkauf wenigstens in den Bereich Soziales fließen würde.“
Wird es aber nicht. Mit den anteiligen Verkaufserlösen von Immobilien tilgt der Bezirk seine Altschulden.
Doris Fiebig dagegen, der jetzigen Vorsitzenden, fehlte es offenbar an der nötigen Resolutheit.
Das, was sie namens der Vertretung vorbrachte, musste den Anwesenden wie ein Affront erschienen sein. “Es hat uns sehr getroffen, wie sehr gespart werden muss”, erklärte die erst kürzlich gewählte Interessenvertreterin – um dann fast wortgleich wie die Stadträtin fortzufahren: Die Senioren-
vertretung hätte sich umgesehen, wo es Ausweichmöglich-
keiten gäbe und sei schließlich zu dem Schluss gekommen, dass eine Schließung der Einrichtung in der Stille Straße unumgänglich sei, weil Einschnitte anderswo ärgere Folgen
haben würden. Doris Fiebig: “Wir vertreten schließlich 72.000 Senioren in ganz Pankow.”
Eveline Lämmer von der Partei Die Linke zeigte sich sichtlich ungehalten über die Darlegungen der Seniorenvertreterin. „Sie sind nicht dazu da, der Stadträtin nach dem Mund zu reden“, ging sie Doris Fiebig an.
Die Senioren ermunterte sie, sich für den Erhalt ihrer Begegnungsstätte in der Stille Straße einzusetzen und lud sie zu einer Anhörung der Linksfraktion der Bezirks-
verordnetenversammlung ein. „Da sind auch die Künstler der bedrohten Kultureinrichtung da, vielleicht können sie sich ja mit ihnen zusammentun.“ Auch die Ausschusssitzungen sollten sie besuchen: „Sie haben dort Rederecht und können Ihr Anliegen vortragen. Sie haben es schon einmal geschafft, die Schließung ihres Hauses zu verhindern. Lassen Sie auch diesmal nicht nach!“
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Michael Springer
Mrz 02. 2012
Die Summe aller sozialen Wohltaten hat zu einer immensen Verschuldung des Staates geführt.
Die staatlichen Schuld-Zinsen nähren die Auswüchse des Finanzkapitalismus – und machen „leistungslosen Reichtum“ erst möglich – mit Zinseszins und Geldblasen.
Die „staatlich subventionierten Canasta-Spieler“ in Pankow sind ein kleiner Teil des großen volkswirtschaftlichen Systems.
Der Teufelskreis der öffentlichen Verschuldung kann nur durchbrochen werden, wenn man „soziales Bürgerkapital“ in die Hand nimmt.
Eine Vereinsgründung, eine Stiftungsgründung – das wären Auswege, um derartige Freizeitstätten auch für die Nachwelt zu erhalten.
Auch sollten gut betuchte Senioren überlegen, ob sie Geld per Erbe stiften – statt direkt in die große Kasse der Erbschaftssteuern einzuzahlen.
Die Bürger sind in unserem Land inzwischen insgesamt reicher als der Staat.
– nur eben nicht die „armen Bürger“!
Karin Schneider
Mrz 02. 2012
@Michael Springer: Schade, dass Sie nicht bei der Veranstaltung waren und Ihren Vorschlag persönlich in die Runde geworfen haben. Die Reaktionen hätten mich schon interessiert. Vielleicht fahren Sie einfach mal in die Stille Straße (sehr schönes Haus, würde ich gerne drin wohnen) und Sie halten bei einer gemütlichen Kaffeerunde einen kleinen Vortrag über soziales Bürgerkapital und Staatsverschuldung.
Michael Springer
Mrz 02. 2012
Ich weiss es ist ein brisantes Thema.
Aber ich habe auch schon einige Vereine gegründet bzw. mitgegründet, die alle noch heute existieren und eine tragfähige Basis haben!
Und so habe ich persönlich auch ein größeres Zutrauen in freie und selbstverwaltete Strukturen – die sich wirtschaftlich tragen.
In jedem Fall kann man auf lokaler Ebene mit Solidarität anfangen, und ein klein wenig Vermögen in kluge Zwecke umverteilen.
Außerdem: in Berlin sitzen die Bundesverbände der Stiftungen – und es ist nicht ausgeschlossen, Geld für ein neues Projekt einfach ganz woanders zu „beantragen.“
Allerdings muß man sich an die Regeln der Gemeinnützigkeit halten – wenn man Förderung benötigt. Zwischen privater Freizeit und gemeinütziger Nutzung ist eine sinnvolle Unterscheidung getroffen.
Doch: auch „reine Wirtschaftsvereine“ können gut funktionieren – ob Brigde, Skat oder Doppelkopf.
Wir müssen nicht wie Kaninchen nur auf die Schulden-Schlange starren ….sondern kreative Lösungen entwickeln. Und ein Hund, der einen Schuldenberg anbellt, wäre auch nicht mein Ding!
additiv
Mrz 02. 2012
Seit wann ist denn Frau Lämmer im Abgeordnetenhaus, hab ich da was verpasst?
von ODK
Mrz 02. 2012
Oh… – wie peinlich ist das denn…??!!
Also: Nein, nichts verpasst. Es war bloß ein Hinweis darauf, dass der Autor urlaubsreif ist.
Und zwar heftig!
ODK
Michael Springer
Mrz 03. 2012
Es zeichnet sich in ganz Berlin ab : die Bezirke sind derart in der Klemme, dass sie nun wichtige Projekte aus den Haushaltsplänen streichen – um einen letzten Rest von Handlungsfähigkeit zu bewahren.
Dabei werden die „Kinder mit den Bädern“ ausgeschüttet – und erst Mitte März – wenn alle Haushaltspläne stehen, wird das Desaster in ganzer „voller Größe und Schönheit“ für das Abgeordnetenhaus und den Senat sichtbar werden!
Es baut sich bis dahin eine aufgeladene Stimmung auf – und das kann eine Kulturstadt wie Berlin eigentlich überhaupt nicht gebrauchen!
Der Senat, die im Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien und der Regierende Bürgermeister sind gut beraten – vorher Zeichen zu setzen, ob man den Kulturabbau wirklich in der Form durchsetzen will – wie die Bezirke unter Zwang und Nötigung behandeln.
Man kann auch die Kulturszene nicht ein halbes Jahr in Ungewißheit lassen, bis letzte Haushalts-Planungen politisch ausgehandelt sind.
Neben einem sozialen Frieden brauchen Kultur & Kulturschaffende auch einen „kreativen Frieden“, in dem Pläne, Projekte, Hoffnungen und Träume wachsen können.
Die Politik sollte nicht nur in die Verfahren, Abläufe und Zahlenkolonnen blicken – sondern die sich aufbauende brisante Stimmung begreifen – und die richtigen Worte finden!
Jan Körner
Mrz 06. 2012
soweit ich das jetzt begriffen habe, wird versucht, die Objekte deshalb zu schließen, weil ein fiktiver Zinzsatz aus einem fiktiven Verkaufswert in der Haushaltsrechnung als Minusbetrag auftaucht. Das betraf bei der Gartenschule nach meiner Wahrnehmung 230 TEuro und nun hier für die Stille Straße wohl die benannten 60 TEuro. Für die Gartenarbeitsschule hat Herr Köhne nun einen Vorschlag aufgegriffen, um eine strukturelle Lösung zu finden, die das Objekt aus dieser fiktiven Haushaltsrechnung herauskatapultiert. Warum das in der jetzigen Situation nicht gleich ganz grundsätzlich als Lösung für potentiell betroffene Objekte der öffentliche Daseinsfürsorge gemacht wird, ist nicht nachvollziehbar. Ach und wenn die Umstruktuierung (evtl. Erbpacht an Trägerverein o.ä.) für die Gartenarbeitsschule klappt, fallen mit einem Schlag die fiktiven „Minus 230 TEuro“ raus, so das dann ja wieder ein ausreichender Puffer für die fiktiven „Minus 60 Teuro“ der Stillen Straße im Haushalt vorhanden sein sollte. … JU ANDERSTÄND MI ?
Philipp Lengsfeld
Mrz 07. 2012
Darf ich mal einen anderen ‚Spin‘ in die Diskussion bringen? Ich finde die Stille Strasse 10 von der Ausstrahlung furchtbar. Zumindest äußerlich scheint hier ein ganz unguter Geist beheimatet zu sein. Welch traurige Tradition eine runtergekommene Fassade hinter einem finsteren Koniferenwald zu verstecken. Hauptsache man fühlt sich als Fremder ja nicht willkommen. Wenn man durch die Gegend läuft, muss man zwar nicht alle neu- oder umgebauten Wohnhäuser der ganz offenbar besser betuchten Anwohner mögen, aber die Stille Strasse 10 und 11 repräsentieren das Ungute andere Extrem. Ich erspare mir aus Höflichkeit das Aussprechen der entsprechenden Charakterisierung.
Es ist übrigens kein Witz, dass tatsächlich die Stille Strasse 10 das Wohnhaus von Erich Mielke war, dem verurteilten Mörder und späteren Stasichef, der seine Berufung 1957 vermutlich noch genau in diesem Haus gefeiert hat (der Umzug der Regierungsmitglieder nach Wandlitz erfolgte erst 1960).
Ich unterstütze durchaus, dass die Angebote für Senioren im Bezirk möglichst weitgehend erhalten werden. Das Haus Stille Strasse 10 jedoch hätte schon vor Jahren zugemacht werden müssen. Hoffentlich bringen das BA und die BVV die Sache diesmal zu Ende.
Andreas Jensen
Mrz 10. 2012
Sehr geehrter Herr Lengsfeld
Vielen Dank,das der Diskussion um die Sille Str. 10 einen neuen Anglizismus bei fügen konnten.Sicherlich werden die Nutzer der Senioreneinrichtung von ihrer Sprachgewandtheit begeistert sein.
Über die Gründe für die „Heruntergekommenheit“ lässt sich aufgrund des Geldmangels im Sozialbereich wohl nicht streiten.Jeder Stadtrat hätte,bei vorhanden sein entsprechender Mittel gern mehr für Gebäudeerhaltung etc. eingefordert.
Es ist natürlich traurig,dass Sie sich in Niederschönhausen als Fremder fühlen.Dies kann man ändern.
Gerade weil ein gewisser Erich M. in diesem Haus gewohnt hat,sollte es für gute Sozial-und Seniorenarbeit erhalten bleiben,damit sich Erich M. in Grabe umdrehen möge.
Auch wenn durch Ihren Artikel klar wird,das die CDU-Fraktion in der BVV Pankow einer Schließung der Stille Str. 10 zustimmen wird,fordere ich den Rest der BVVler auf die Einrichtung zu erhalten,um eine kieznahe Versorgung mit Senioreneinrichtungen in Niederschönhausen zu gewährleisten.
Liebe Bezirksverordneten: Handelt nicht nach dem Motto „Wir sparen! Koste es was es wolle!“Denn bald gehört auch Ihr zum Kreis der Anspruchberechtigten!
klaus
Mai 03. 2012
Dass die „Stille Straße“ geschlossen werden soll berührt mich sehr und ich grause mich davor selbst einmal alt zu sein, wenn es dann keine soziale Stätte mehr für mich gäbe.