„Papplick Wjuing“ heißt das Modewort der Stunde – was wohl soviel heißt wie: Öffentlich (fern-)sehen. Wann immer eine internationale Fußballmeisterschaft ins Haus steht, gibt es Papplick Wjuing. Unzählige Hörfunksender, lokale Fernsehkanäle, altehrwürdige Zeitungen und deren Online-Ableger publizieren jene Orte, an denen GEZ-frei fern gesehen werden kann. Und verbreiten damit unversehens ein Gefühl des Mangels.
Denn selbst im Fachportal für den gemeinsamen TV-Genuss sind für Prenzlauer Berg lediglich acht Treffpunkte vermerkt. Was für einen Stadtteil mit über 140.000 Einwohnern statistisch kaum noch darstellbar ist.
Und wenn auch nur die Hälfte aller Prenzlauer Berger an jenen acht Plätzen… – das Gedränge möchte man sich besser erst gar nicht vorstellen. Andererseits: Die Welt ist vielfältiger, als das Internet sich träumen lässt. Also versuchte die Prenzlberger Stimme während eines Spiels der deutschen Mannschaft zu erkunden, wie eng die Verhältnisse tatsächlich sind.
Der erste Eindruck beim Verlassen des Verlagshochhauses in der Wichertstraße ist ein äußerst unheimlicher: Kein Mensch weit und breit. Und eine Stille, die Gänsehaut macht. So muss es in Tschernobyl kurz nach der Evakuierung ausgesehen haben.
Dann plötzlich, wie aus weiter Ferne, ein Geräusch: Vielstimmiges Tröten, wie man es aus Fußballstadien kennt.
Verursacher der Ruhestörung ist ein Fernsehgerät. Aufgestellt im Schankgarten des Indischen Restaurants „Zaika“ an der Wichert-/ Ecke Gudvanger Straße.
Kurzes Stutzen: Papplick Wjuing beim Inder? Spielen die überhaupt mit?
Offensichtlich nicht, denn die Zahl der Zuschauer hält sich in Grenzen.
Nach nur drei weiteren Wegesminuten das bekannte Geräusch erneut zu vernehmen.
An der ecke Scherenbergstraße steht der Bildschirm in einem offenen Fenster, und wieder sind es nur wenige Zuschauer, die sich dem Zauber des Spieles hingeben.
Was darauf schließen lässt, dass es sich auch hier um ein Restaurant handelt, das mit einem exotischem Angebot aus einem fernen, unerreichbaren Land aufwartet: Einem Land, das mit Sicherheit mit keiner eigenen Mannschaft bei der Europameisterschaft vertreten ist.
Und richtig: Die Restauration „Bei Muttern“ bietet Spezialitäten aus…tja… – aus der DDR an. Imaginäres Motto: Soljanka oder sollse nich?
Auch klar: Wo die DDR ihren Fuß in der Tür hat, sind die sowjetischen Freunde nicht weit. Beziehungsweise „der Russe“.
So auch hier.
Und zwar in einer wirklichen teuflischen Vatiante. Denn das „Russische Café“, das in der Wichertstraße direkt neben dem ostalgischen Speisentempel sein Quartier hat, heißt nicht etwa „Drushba“, „Leninschänke“ oder „Ruhm und Ehre der baltischen Rotbannerflotte“, sondern „Voland“. Und Voland (bzw. Woland bzw. Воланд) ist niemand anders als der leibhaftige Gottseibeiuns persönlich. Unter diesem Namen
wandelt nämlich in Michail Bulgakows „Der Meister und Margarita“ die russische Form des Mephisto durch das Geschehen.
Bei den Teufelsrussen ist im Gastraum eine Leinwand aufgestellt. Die „Sbornaja“ allerdings wird darauf nicht mehr zu sehen sein… .
In der Schönhauser Allee angekommen, ist es auch mit der Ruhe vorbei. Hier sind Verkehr und großstädtischer Radau auch durch wichtige EM-Spiele nicht zum Erliegen zu bringen. Verzichten muss man auf das Wissen um die aktuellen Spielsituation aber dennoch nicht. Ein Blick auf den
Bildschirm neben Kaplans Döner-Halle gibt die Gewissheit: Alle 22 Spieler befinden sich nach wie vor auf dem Rasen und auch der Schiedsrichter hat noch nicht aufgegeben.
„Jalla! Jalla!“ ist ein arabischer Ausruf und bedeutet soviel wie „Schnell, schnell!“ oder auch „Los gehts!“ Eigentlich eine passender Anfeuerung.
Im „Jalla Jalla“ in der Kopenhagener Straße ruft aber niemand „Jalla! Jalla!“, denn aus naheliegenden geografischen Gründen ist nicht eine einzige arabische Mannschaft mit im Spiel. Dennoch sind ausreichend Bildschirme vorhanden, um festzustellen, dass noch immer kein Tor gefallen ist.
Einen Steinwurf weiter, an der Ecke Rhinower Straße, künden eine deutsche und eine spanische Fahne davon, dass es sich hier Anhänger von heißen Favoriten auf die Euro-Krone treffen.
Der Name des Restaurants „AndaluZia“ weist zudem nachdrücklich darauf hin, welche Mannschaft im Falle eines Falles hier wohl für tatsächlich für europameisterlich gehalten werden könnte.
Sollte das Finale „Spanien gegen Deutschland“ heißen, wäre wohl nicht nur die Straßenkreuzung für einige Stunden unpassierbar…
„Platz ist in der kleinsten Hütte“, lautet ein altes Sprichwort. An der Ecke Sonnenburger Straße zeigt sich, dass das mit ehernen Weisheiten so eine Sache ist.
Denn erstens ist die „Hütte“ alles andere als klein, und zweitens ist dort kein (Sitz)Platz mehr zu finden. Nicht drinnen und nicht draußen.
Und auch die Stehplätze sind rar und nur zum Preis des intensiven Körperkontaktes mit Gleichgesinnten zu ergattern.
Durch ein Tarnnetz geschützt (vor was eigentlich?) drängeln sich die Besucher auf dem „Hof“ der „Hütte“ um die Vorgänge
zu betrachten, die weiter vorn mittels Beamer auf ein aufgespanntes weißes Tischtuch projiziert werden.
Gleich nebenan wurde von den Hüttenbetreibern eine „Raumerweiterungshalle Variant“ (den alten – also den ganz alten – Ossies als „Zieharmonika bekannt) zum „WM-Studio Mitte“ umfunktioniert.
Was zu gewissen Spekulationen Anlass gibt..
Werden hier etwa schon die Kommentare und Interviews für 2014 vorproduziert? Und: Gibt es geheime Senatspläne, nach denen die Kopenhagener Straße künftig dem Bezirk Mitte zugeschlagen werden soll…?
Gleich hinter der „Hütte wird es wieder still. Die am Beginn des Weges wahrgenommene Tschernobyl-Atmosphäre kehrt zurück.
Unwirklich, gruselig angsteinflößend.
Am Wegesrand verlassenes Mobiliar, das offenbar von den überstürzt fliehenden Besitzern zurückgelassen wurde – keine Zeit mehr, irgendetwas mitzunehmen. Auch die Vögel scheinen Reißaus genommen zu haben: Kein Piepsen, Zwitschern, Tschirpen ist zu hören, und selbst das Laub in den Bäumen hängt bewegungslos an den Ästen.
Bloß weg hier, und zwar schnell!
Es gab ja viele berühmte Wege und Straßen. Die knapp 4.000 Kilometer lange „Route 66“ zum Beispiel, die einstmals Chicago am Michigansee mit der Westküstenstadt Santa Monice verband und eigentlich „US Highway 66“ hieß.
Oder der rund 2.000 Kilometer lange „Ho Chi Minh-Pfad“, bei den Vietnamesen Đường Trường Sơn geheißen (nach der Truong-Son-Gebirgsette benannt), über den während des Vietnam-Krieges Nordvietnam seine Truppen im Süden mit Mannschaft und Material versorgte.
Beide Wegstrecken sind längst Geschichte.
Die Route 66 sind durch Interstate Highways ersetzt worden. Und der Ho-Chi-Minh-Pfad wurde nach dem Sieg der
Vietnamesen über die US-Amerikaner und der darauffolgenden Wiedervereinigung des Landes schlicht überfüssig.
Die Rudi-Völler-Straße hat zwar nicht ganz die Länge ihrer berühmten Trassenschwestern, dafür aber ist sie bis heute in ihrer gesamten Distanz in Betrieb. Beginnend an der Bernauer Straße, endet sie schließlich nach vielen, vielen Metern (es sollen an die 1.000 sein!) direkt bei „Tante Käthe“.
Bei der Ankunft des Papplick-Wjuing-Testers der Prenzlberger Stimme: Himmel und Menschen!
Der Schiedsrichter hatte kurz zuvor auf Halbzeit entschieden
(wenn auch nicht ganz klar war, für wen) und so ist auf den Bildschirmen und Leinwänden bloß der Nachrichtensprecher zu sehen.
Während sich ein Großteil der Besucher an die Schankstellen begibt, um Treibstoff aufzufüllen, nutzen einige andere die Pause, um die entscheidenden Szenen der ersten Halbzeit noch einmal nachzustellen. Die darauffolgende Analyse belegt: Das Spiel ist tatsächlich so gelaufen, wie im Fernsehen gezeigt – aber es hätte auch anders kommen können.
Mit solcherart Expertise im Gepäck geht es weiter – nunmehr in Richtung Süden. Während der über zehn Minuten andauernden papplick-wjuing-freien Wanderzeit sind in der
Ferne Abschüsse von Feuerwerksraketen zu vernehmen, was auf einen erfolgreich Torschuss der deutschen Mannschaft schließen lässt.
In der Mauerpark-Gastronomität „Schönwetter“ angekommen, wird die Vermutung durch einen Blick auf die Leinwand bestätigt. Im „Schönwetter“ sind zu diesem Spiel auffällig viele Touristen anwesend. Einige scheinen schon etwas länger vor Ort zu sein und offenbaren nun mit Blick auf eine in den Baum gehängte IKEA-Leuchte einige Orientierungsschwierigkeiten: „‚tsch…tschuldigung, is das da ohm die S..sonne oder der Mond?“ – „Keine Ahnung. Bin nich von hier.“
Im benachbarten „Mauersegler ist es genauso proppevoll wie im Schönwetter, einen Sitzplatz sucht man hier vergebens. Allerdings scheinen hier die Abläufe besser organisiert zu sein. Denn kaum, dass der Abgesandte der „Prenzlberger Stimme“ das Areal betreten hat, erhebt sich ein geradezu ekstatischer Jubel.
Es dauert ein paar Momente, bis ihm klar wird, dass der Aufschrei dem Geschehen auf den Bildschirmen gilt: Deutschland hatte gerade einen weiteren Treffer erzielt.
Auch gut.
Kurze Zwischenbilanz: Ganz Berlin schaut in die Röhre. Oder auf die Leinwand. Auf alle Fälle aber: Papplick Wjuing.
Doch beim Verlassen des Mauerparks fällt der Blick auf das „Sukho Thai“ an der Eberswalder/ Ecke Oderberger Straße. Kein Fernseher, kein als Projektionsfläche zweckentfremdetes Bettlaken ist zu sehen – sondern bloß eine schwarze Tafel. Und auf dieser wird nicht etwa der aktuelle Spielstand notiert, sondern das Angebot für den nächsten Tag. Und trotzdem befinden sich im Innern des Lokals noch Gäste.
Seltsam…
Doch ein paar Meter weiter kehrt wieder Normalilität ein: Al Muretto hat natürlich seine Flimmerkiste aufgestellt.
Doch was ist das schon im Verhleich zur Kastanienallee! Lokal reiht sich hier an Lokal, und vor, in und neben jedem Café, jeder Kneipe, jedem Imbiss kann gepapplickwjut werden – das hat fast schon was von einer Fanmeile!
Die Stimmung ist fröhlich, heiter, ausgelassen – nur auf der anderen Straßenseite, am Zaun zum Pratergarten, werden ein paar spätpubertierende Pfortensteherlein gegenüber einlassbegehrenden Fußballsüchtigen ein bisschen pampig. Was von den meisten aber schlichtweg ignoriert wird.
Irgendwann ist der Schiedsrichter im fernen Osteuropa schließlich der Meinung, dass das Spiel ein Ende haben muss. Er greift zur Trillerpfeife und der Zauber ist vorbei.
Deutschland hat gewonnen.
Und die Prenzlberger Stimme kann beruhigt feststellen: Papplick Wjuing ist überall.