Wirtschaft am Abgrund

Planetarium nachtAuf der Einladung stand: „16. Pankower Wirtschaftstag“. Laut des Begrüßungstransparents, das an der Kuppel des Zeiss-Großplanetariums befestigt war, trug die Veranstaltung aber einen anderen Namen. Auch das Thema des Abends ließ Wirres vermuten: „Arbeitskräfte fehlen – woher nehmen, wenn nicht stehlen?“ Claro, bei gerade mal noch 219.388 Arbeitslosen, die die Bundesanstalt für Arbeit im Oktober in Berlin eben noch so zusammenkratzen konnte, und den dagegen stehenden, überbordenden 10.693 offenen Stellen, ist der Mangel an Arbeitskräften kaum noch zu verbergen. Nicht mal mehr 21 Bewerber auf je einen freien Arbeitsplatz – der Untergang ist nahe!

Um das drohende Unheil abzuwenden, wird vor nichts mehr Halt gemacht. Man nimmt, was man kriegen kann.
Bei der Reaktivierung der Alten und Siechen macht sich der Beschäftigungspakt Berliner BÄr verdient, der im Foyer einen Stand hatte. Mehr als 10.000 Arbeitssuchen-
de mit einem Alter über Fünfzig berät der „Pakt“ jährlich. „Ältere Arbeitnehmer sind zuverlässiger als die jungen“, erklärte der Herr an den Schautafeln eifrig, „sie haben keine Probleme mit dem frühen Wachwerden und sind daher viel pünktlicher.“ Und wieviel Frühaufsteher wurden in diesem Jahr schon vermittelt? „Über tausend. Damit ist der Plan für dieses Jahr schon übererfüllt. Was wir jetzt noch machen, machen wir bloß noch aus Spaß höhöhö.“ Erfolgsquote also um die zehn Prozent. Toll!
Webdesigner schienen aber nicht unter den Pakt-
Beglückten gewesen zu sein. Denn kaum hatte sich der Berichterstatter abgewandt, folgte ihm eine ebenfalls zu den BÄren gehörende Dame. „Sie machen was mit Internet? Wir suchen nämlich noch jemand, der unsere Seite neu gestaltet… .“ Der so angesprochene war erschüttert. Hatten ihm Freunde und Bekannte nicht immer wieder versichert, er sähe viel jünger aus, als er tatsächlich ist? Heuchler!
Dann begaben sich die Anwesenden in den Kuppelsaal des Planetariums. Der in Pankow auch für Wirtschaft zuständige Stadtrat Michail Nelken trat ans Pult und hob – wie immer sprühend vor Temperament – zu einer wie gewohnt rhetorisch brillianten Begrüßungsrede an. Mitreißend sprach er von einem „wirtschaftlichen Hochsommer“, der unerwartet über Deutschland, und damit auch über Berlin hereingebrochen sei. Und keiner hat gelacht. Was nur zeigt, dass man auch für das Erzählen eines wirklich guten Witzes über ein Minimum an Talent verfügen muss.

Danach wurde die Lage unübersichtlich. Aus irgend-
welchen Ritzen des Raumes quoll unaufhörlich weißer Rauch. Doch weil keiner „Feuer, Feuer!“ rief, blieb die nun eigentlich zu erwartende Panik aus. Es war denn auch bloß künstlicher Nebel, der für die folgende Laser-
show in den Saal geblasen wurde. Titel des elektronisch gesteuerten Lichterzaubers: „36 Grad“. Ein Grad mehr, und es wäre Fieber. Oder war das gar eine Anspielung auf den „wirtschaftlichen Hochsommer“? Raffiniert!

Die Schwaden hatten sich noch längst nicht wieder verzogen, da ergriff Harald Michel, Leiter des Instituts für angewandte Demographie ,das Wort.
Es ist immer wieder atemberaubend, wie mutmaßlich seriöse Wissenschaftler ohne mit der Wimper zu zucken dem staunenden Publikum weismachen, sie könnten in die Zukunft sehen. Die sogenannten „Wirtschaftsweisen“ sind dafür leuchtendes Beispiel: Seit fast fünfzig Jahren sagen sie im Auftrag der Bundesregierung die wirtschaft-
liche Entwicklung des Landes voraus – und lagen noch jedesmal daneben. Was aber nicht so schlimm ist, denn

hinterher wissen sie immer ganz genau, woran es gelegen hat.:“Die unerwartet positive Aufwärtstendenz der deutschen Wirtschaft…“.
Ja, klar. Wissenschaftliche Prognose ist, wenn man hinterher schlüssig begründen kann, warum alles ganz anders kommen musste…
Besitzen die „Weisen“ jedoch mit den jeweils aktuellen Wirtschaftsda-
ten zumindest zuverlässiges Ausgangsmaterial, so verfügt Harald Michel nach eigenen Angaben nicht einmal darüber: „Niemand weiß, wieviel Menschen in Deutschland leben. Ich auch nicht.“ Weil es in Deutschland keine richtige Volkszählung gäbe. Was ihn aber nicht davon abhielt, anhand von ganz konkreten Zahlen eine überraschende Nachricht unters Volk zu streuen: Die Deutschen werden immer älter – dafür aber immer weniger. Zumindest seit 2004. Bis dahin sei die Bevölkerung nämlich gewachsen. Also mengenmäßig. Und belegte dies mit Zahlen, die er, wie er ja betont hatte, gar nicht kennen konnte. Und prognostizierte anhand der nicht bekannten Zahlen eine weitere gravierende Schrumpfung der Deutschen.
Oh Wunder der Wissenschaft!

Es gibt Momente im Leben eines Menschen, da durchschießt ihn instinktiv die Erkenntnis: Das überlebst du nicht! Bloß weg hier – aber schnell! Jener Punkt trat beim Autor dieser Zeilen ein, als den Anwesenden die Drohung zuteil wurde, nun ein „szenisches Überraschungsbonbon zur demographischen Herausforderung durch die Theatergruppe Inszenio“ erdulden zu müssen. Die Flucht endete auf dem benachbarten Gelände des Bezirksamtes in der Fröbelstraße. Dort tagte gerade der BVV-Ausschuss für öffentliche Ordnung, Verkehr und Verbraucherschutz.

Wintervorbereitung stand auf der Tagesordung. Stadtrat Jens-Holger Kirchner referierte über das eben vom Senat verabschiedete neue Straßenreinigungsgesetz und die daraus resultierenden Folgen für den kommenden Winter. Ach, wie angenehm war es doch, dem Manne einmal zuzuhören, ohne ständig gewahr sein zu müssen, dass Wörter wie „Parkraumbewirtschaftung“ oder ähnlich beleumundete Vokabeln aus ihm herausbrechen könnten. Aber dann: „Nach Inkrafttreten der Gesetzesänderung müssen nicht nur Hydranten von Schnee und Eis befreit werden sondern auch… Parkscheinautomaten.“
Und in die Augen kam ein Leuchten und leise schwellte stolz die Brust…

Der Autor flüchtete erneut. Auf dem Weg nach draußen ereilte ihn eine Vision: Kirchner kommt nach Hause, stellt an der Wohnungstür erschrocken fest, dass er keine Vignette an der Hose hat, und zieht daher, bevor er sích in den Fernsehsessel fallen lässt, schnell noch aus dem im Korridor verankerten Parkscheinautomaten ein Abend-Kupon…
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Im Planetarium hatte man sich mittlerweile in zwei workshops eingefunden. Einer fand im Kinosaal statt. Er trug den lustigen Titel: „Wie angele ich richtig Personal?“ Dort stimmte der Angler private Pankower Arbeitsvermittler Andreas Kübler die Anwesenden auf die kommenden arbeitskräftelosen Zeiten ein: „Elektriker und Handwerker sind jetzt schon rar.“ Auch beim Büropersonal sähe es gar nicht rosig aus: Junge Sekretärinnen seien nur noch selten auf dem Arbeitsmarkt zu haben. „Die Zeiten, in denen man eine Sekretärin einstellt, die dann vierzig Jahre bleibt, sind vorbei.“ Ältere seien aber manchmal noch verfügbar. Kurz: Die Lage ist hoffnungslos. Wenn allerdings ein guter Vermittler eingeschaltet wird…

Den wenigen Glückpilzen unter den Unternehmern, denen wider Erwarten doch einmal eine Bewerbung ins Haus flattern sollte, gab Moderatorin Christine Limberg vom Wirtschaftskreis Pankow den dringenden Rat, sofort zu handeln: „Lassen Sie den Bewerber nicht warten! Antworten Sie sofort! Sonst nimmt er eine andere Stelle an!“ Doch auch wenn Bewerbungen demnächst mangels Bewerber seltener als ein Lotto-Sechser sein sollten und sich nicht jeder Unternehmer einen privaten Arbeitsvermittler leisten kann oder will, ist noch nicht alles verloren.
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„Internet“ heißt das Zauberwort und Alexander Babing war der Mann, der es gelassen aussprach. Wie auch den zweiten Begriff, der wie „Soschellmehdia“ klang und „social media“ geschrieben wird, weil es englisch ist. Xing ist nicht unbedingt englisch, auch nicht unbedingt deutsch, aber, so erklärte Babing im Schnelldurchlauf, das größte deutsche „Social-Media-Portal“, auf dem sich Leute aus beruflichen Gründen vernetzen. Auf „Facebook“ kann man Anzeigen schalten, und „wer SMS kann, kann auch Twitter“. Außerdem sollte der Firmen-Auftritt im Internet immer gut geppflegt sein, seine Agentur unterstütze die Unternehmen auch in dieser Hinsicht gern.

Damit war dann sowohl der Vortrag, als auch der workshop zu Ende. In der Wandelhalle spielte eine Kapelle auf, es gab Schnittchen und gekühlte Getränke. Zeit für die vom Arbeitskräfteschwund gebeutelten Unternehmer, die für ein paar Stunden der Einsamkeit ihrer leeren Unternehmensräume entflohen waren, sich gegenseitig Mut für die Jagd auf die letzten verfügbaren Arbeitnehmer zuzusprechen. Und natürlich die Gelegenheit für den Reporter, die offenbar von allen Angestellten Verlassenen zu befragen, wievlel Leute sie mit dem hier gewonnenen Wissen neu zu rekrutieren hofften.
Doch seltsam: Wer auch immer angesprochen wurde,

niemand hatte Bedarf an Arbeitskräften. Wie das? Da kommen über hundert Menschen zu einer Veranstaltung bei der Ihnen geholfen werden soll, leere Stühle zu besetzen – doch all die Anwesenden haben dafür überhaupt keinen Bedarf? Über zwanzig Damen und Herren wurden vom immer verzweifelter wirkenden Berichterstatter befragt, da endlich fand sich ein, nein, fanden sich gar zwei Unternehmer, die zwar auch nicht unbedingt an einem betrieblichen Einsamkeitssyndrom litten, aber immerhin noch zwei, drei Leute einstellen wollten. Und weil diese beiden offenbar überraschend seltene Exemplare auf einer Veranstaltung waren, die immerhin den Titel

„Arbeitskräfte fehlen – woher nehmen, wenn nicht stehlen?“ trug, seien sie hier auch kurz vorgestellt.

Da ist zum einen Alberto Enrique Boerger (rechts im Bild), Geschäftsführer vom „Hotel 4 youth“. Er benötige „Personal für die Nachschicht und für das Frühstück“, ließ er den Reporter wissen.
„Selbstverständlich werden diese Servicekräfte bei uns nach Tarif bezahlt“, versicherte Herr Boerger auf Nachfrage – dem Vernehmen nach soll das nicht überall im Hotelgewerbe die Regel sein.
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Der zweite einstellungbereite Unternehmer heißt Marco Höhne. Er ist Geschäftsführer der Deubel & Co Handels- und Transportservice GmbH. Das in der Pankower Vinetastraße beheimatete Unternehmen hat noch freie Stellen an Kraftfahrer zu vergeben.

Das wars dann aber auch. Mehr konnten trotz zahlreicher Anfragen an die über einhundert Anwesenden nicht ausfindig gemacht werden.

 

Fazit: Ein Abend, an dem Lösungen für ein Problem versprochen wurden, das es offensichtlich gar nicht gibt – und wenn man sich die Arbeitslosenzahlen der Bundesanstalt für Arbeit näher betrachtet, in absehbarer Zukunft wohl auch kaum geben wird. Wie wäre es denn, wenn das Thema des nächsten Pankower Wirtschaftstages wenigstens ein bisschen mehr Realitätsnähe aufweisen würde, als das des nun vergangenen? Zum Beispiel: „Hilfe, die Außerirdischen kommen!“ Das würde wenigstens zum Veranstaltungsort passen.

Update Passend zum Thema „Spiegel online“: So unfrei kann Forschung sein: Ein Arbeitsmarktexperte des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung bezeichnet den Fachkräftemangel als „Fata Morgana“…



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