Es muss so knapp eine Woche nach der Maueröffnung gewesen sein und die Lage war verzweifelt. Fast jeder DDR-Bürger hatte mittlerweile eine Partei gegründet oder doch wenigstens schon mal eine Initiativgruppe zur Gründung einer Partei aus der Taufe gehoben.
Nur ich nicht.
Nicht einmal zur Gründung einer Initiativgruppe mit dem Ziel der Gründung einer Initiativgruppe zur Gründung einer Partei hatte es gereicht. So weit außerhalb der Gesellschaft zu stehen… – das musste sich ändern.
Also begab ich mich zum Nachdenken darüber, wie der unangenehmen Lage zu entkommen wäre, in „Lothars Bierbar“.
Jene Kneipe in der Metzer Straße, in deren Räumlichkeiten sich heute Bert Papenfuß‘ „Rumbalotte“ befindet, war zum Denken ideal: Sie war eine der wenigen Lokalitäten Ost-Berlins, bei der die Rollläden nicht schon um Mitternacht heruntergelassen wurden, so dass man, wenn man nur zeitig genug erschien, nicht der Gefahr anheim fiel, von einem Heimweh verspürenden Wirt mitten in einem unwiederholbaren Gedankengang aufgeschreckt und aus dem Lokal vertrieben zu werden.
Der nicht unbeträchtliche Zeitraum von fünf halben Litern war bereits verstrichen und ich befand mich noch immer bei der Bestandsaufnahme.
Und die war nicht eben ermutigend: Jede Partei benötigt eine Parteifarbe – aber jeder nur denkbare Farbton schien bereits vergeben zu sein: Hell- und Dunkelrot, Gelb, Blau, Schwarz, Braun, Grün… – selbst Lila war schon weg, irgendwelche Frauen mit sonderlichem Farbempfinden hatten den blauroten Mischmasch bereits für sich reklamiert. Wie sollte man da noch eine eigene politische Vereinigung gründen können?
Gerade als diese entscheidende Frage in einem konzentrierten Selbstgespräch geklärt und zu diesem Zwecke flüssiger Nachschub geordert werden sollte, wurde es mucksmäuschenstill im Lokal. Alles starrte in Richtung Tresen – aber außer einem Mann mit breitkrempigem Hut, der dort für sich und seinen Begleiter ein Bier bestellte, war nichts zu sehen. Doch dann ertönte mitten in die atemlose Ruhe hinein ein Schrei.
„Uuudoooo!!!!!“
Als wäre dies das Kommando für ein lang eingeübtes Ritual, brüllte plötzlich das ganze Lokal aus vollem Halse: „Udo! Udo! Udo! Udo! Udo…!“
Der Breitkrempige am Tresen, dem diese Rufe offenbar galten, reagierte nicht. Angestrengt schaute er auf den Zapfhahn, aus dem der Wirt – den Gast freudig anstrahlend und ebenfalls lauthals „Udo, Udo!“ skandierend – das Bier ins Glas fließen ließ.
Da der Lärm, der mich in meinem Denkprozess doch erheblich beeinträchtigte, einfach kein Ende nehmen wollte, winkte ich Peter heran.
Kellner Peter war ein schlanker junger Mann, den die Damenwelt allein seines Aussehens wegen zuhauf mit schmachtenden Blicken bedachte. Zumindest so lange, bis sich ein erstes Gespräch mit ihm ergeben hatte. Denn Peter war, nun ja… – beim Denken noch langsamer, als beim Servieren.
Und völlig ironiefrei war er auch.
„Was! Haaa-ben! Diee- se! Leute! Denn! Auf! Ein-mal?!!“, brüllte ich ihn – den Sprechchor nur mit Mühe übertönend – an.
„Mööönsch! Daaas! Ist! Udooo!“
„Udooo??“
„Jaaa!! Udooo!!! DER Udooo!!!“
„Der von Stengel??“
„Hä???“
„Hans-ge-org Stengel!!! Das Palindrom! ‚O du relativ vitaler Udo‘!! Kannste vorwärts und rückwärts lesen!!!“
Während die „Udo-Udo“-Rufe nun auch noch durch allgemeines Faust-auf-den-Tisch-Schlagen rhythmisch verstärkt wurden, hatte Peter Mühe, die Fassung zu behalten. Seine Gesichtszüge entgleisten merkbar, die Augen kreisten mit beachtlicher Geschwindigkeit in ihren Höhlen, erst links- und dann rechtsherum. Soviel Ignoranz…
„Nein!!! Nicht der Palin-Dom! Der Sän-ger!!!“
„Der Sänger??“
„Der Sänger!!!“
„Ach so!!“
Die Kellner-Augen rollten langsam aus und kamen schließlich ganz zur Ruhe. Auch die sie umgebenen Gesichtszüge entspannten sich: Endlich hatte es sein Gegenüber begriffen.
„Ich hätte ihn jetzt nicht erkannt! Im Fernsehen sieht der Udo Jürgens ganz anders aus!!“
Peter lief für einen Moment hochrot an, dann warf er mit voller Kraft das – zum Glück leere – Tablett zu Boden.
Mitbekommen hatte das aber niemand, denn die „Udo!-Udo!“ Rufe übertönten das Scheppern des aufschlagenden Serviergerätes locker.
Erst nach einer guten Viertelstunde kehrte langsam wieder Ruhe ein. Da war der Hutträger schon längst auf und davon.
Nur sein Bier stand noch fast unberührt auf dem Tresen.